Kerem Schamberger: »Schock und auch Gewohnheit«

Beinahe hätte der marxistische Wissenschaft­ler und Aktivist KEREM SCHAMBERGER nicht einreisen dürfen. An der Grenze zwi­schen Österreich und Deutschland zwang ihn die Polizei aus dem Zug zu steigen und detail­liert über seine Pläne in Österreich zu berich­ten. RAINER HACKAUF hat Schamberger zur Gefängnissituation in der Türkei befragt.

Mit Max Zirngast sitzt gerade ein Jour­nalist und Blogger aus Österreich in der Türkei im Gefängnis. Die genauen Vor­würfe sind noch unklar. Kennst du Zirn­gast?

KEREM SCHAMBERGER: Ich kenne ihn, wir sind via Facebook in Kontakt. Er schreibt für das lesenswerte re:volt Magazin und kennt sich auch in der Türkei besser aus als ich, da er in Ankara gelebt hat. Die Inhaftierung war zugleich ein Schock für mich, aber auch, so bitter das klingt, Ge­wohnheit. Schließlich sind viele meiner tür­kischen oder kurdischen Bekannten schon festgenommen worden. Das Besondere an der Verhaftung von Max ist, die Politik der Geiselnahme durch Erdoğan weitet sich aus. Nach Deutschen wie Deniz Yücel hat es nun auch einen Österreicher getroffen. Wir wer­den sehen, wie sich die österreichische Rechtsregierung nun verhält.

Die Repression in der Türkei gegen linke und kurdische AktivistInnen ist stark. Wie hat sich die Situation seit dem Putschversuch verändert?

KEREM SCHAMBERGER: Das neue Machtkon­zept der AKP unter Erdoğan besteht aus einer gezielten gesellschaftlichen Spaltung. Auf der einen stehen die TerroristInnen – also die tür­kische Linke, Kurden und Demokratiebewe­gung –, auf der anderen Seite stehen in dieser Logik alle, die Erdoğan unterstützen. Der Angriffskrieg auf Afrin von Anfang des Jahres ist hier einzuordnen, ebenso wie die Verhaf­tung streikenden Bauarbeiter in den letzten Tagen. So wurden 400 Bauarbeiter des dritten Istanbuler Flughafens in Gewahrsam genom­men, 24 davon mittlerweile in dauerhafte Untersuchungshaft. Dazu muss man sagen, dass diese Bauarbeiter Kurden sind, da Kurden auch einen Gutteil des proletarischen Teils der Bevölkerung stellen. Hier spielt also auch eine Klassenfrage mit hinein.

Von welcher Größenordung reden wir da?

KEREM SCHAMBERGER: Die Anzahl linker, politischer Gefangener war in der Türkei im-mer schon hoch. Diese hat sich jedoch seit Beginn der AKP-Herrschaft, vor allem aber seit dem Abbruch des Friedensprozesses im Som­mer 2015 vervielfacht. Insgesamt gibt es in der Türkei 390 Gefängnisse, 40 weitere sollen bis Jahresende eröffnet werden und noch weitere 100 werden derzeit gebaut. Darin sind rund 250.000 Menschen inhaftiert.

Rund 10.000 AnhängerInnen der HDP, also der Demokratischen Partei der Völker, wur­den seitdem inhaftiert. Der Vorsitzende Sela­hattin Demirtaş sitzt seit zwei Jahren im Hoch­sicherheitsgefängnis. Weitere 10.000 sitzen wegen echter oder angeblicher PKK-Mitglied­schaft oder anderen Aktivitäten für die kurdi­sche Freiheitsbewegung im Gefängnis. Über 34.000 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung und 1.270 wegen IS-Mitgliedschaft. Auch diese Zahlen sprechen für sich. Tausende der Inhaftierten sind übrigens Studierende, die oft wegen ihren politischen Aktivitäten auf der Uni eingesperrt wurden.

Türkische Gefängnis sind berüchtigt. Was dringt in Bezug auf die Haftbedingungen nach außen?

KEREM SCHAMBERGER: Die türkischen Gefängnisse sind extrem überbelegt. Die Haft­bedingungen sind damit sehr dramatisch. Es gibt sehr viele erkrankte Gefangene, lebens­wichtige medizinische Behandlungen werden oft verweigert. Viele verlassen mit chronischen Erkrankungen das Gefängnis auf Grund der katastrophalen Haftbedingun­gen. Und erst heute wurde bekannt, dass über 750 Kleinkinder zusammen mit ihren Müttern eingesperrt sind.

Darüber hinaus mehren sich die Berichte von Folter in Gefängnissen. Das was also in der Türkei schon überwunden geglaubt war, mehrt sich wieder. Vor allem bei Pro­testen in den Gefängnissen für besseres Es­sen oder Haftbedingungen wird seitens der Wärter sehr schnell zu Gewalt gegriffen.

Der Mitgründer der Kurdischen Arbei­terpartei, Abdullah Öcalan, befindet sich seit knapp 20 Jahren im Gefängnis. Das hat seiner Popularität keinen Abbruch getan, hat er doch einige Bücher aus dem Gefängnis heraus veröffentlicht. Was spielt er für eine Rolle?

KEREM SCHAMBERGER: Er ist der Schlüs­sel für die kurdische Frage in der Türkei. Und meiner Einschätzung nach ist das nicht nur eine kurdische Frage, sondern eine Frage der Demokratie. Die Demokrati­sierung der Türkei muss Hand in Hand mit einer Föderalisierung der Türkei gehen, also weg von einem Zentralstaat hin zu Bundesländern oder Kantonen mit eigenen Kompetenzen wie in Deutschland oder der Schweiz. Damit ist das keine kurdische Frage alleine, da die Türkei ja aus sehr vie­len Ethnien, religiösen und kulturellen Gruppen besteht.

Vorschläge für so eine Dezentralisierung weg von Ankara kamen wiederholt aus İm-ralı, der Gefängnisinsel auf der Abdullah Öcalan sitzt. Seine Rolle ist mittlerweile also mehr die eines Vordenkers der Demo­kratisierung der Türkei und eigentlich des ganzen Nahen Ostens. Der Aufbau von selbstverwalteten Strukturen in Rojava be­ruht auf seinen Ideen. Er ist der Schlüssel. Wenn er nicht in Gespräche eingebunden und mittelfristig frei gelassen wird, dann wird es keinen Frieden in der Türkei geben.

Ende September kommt der türkische Präsident zum Staatsbesuch nach Deutschland und wird mit allen Ehren empfangen. Was wären linke Forderun­gen an die Regierungen in Deutschland oder Österreich im Umgang mit Erdoğan?

KEREM SCHAMBERGER: Keine Zusam­menarbeit mit solchen Verbrechern. Die Bundesregierung wäre eigentlich in der Lage die Wirtschaftskrise in der Türkei zu nützen, um Druck in Hinblick auf Verhand­lungen um eine Verbesserung der Situation vor Ort aufzubauen. Das ist aber politisch und wirtschaftlich nicht gewollt. Vor allem auch, weil das Bankensystem in der Türkei von Deutschland geschützt wird, da die Banken wiederum vor allem im ausländi­schen Besitz stehen und daher von Deutschland als »systemrelevant« einge­stuft werden.

Abschließen gefragt: Jenseits von Solida­rität, warum sollte sich die Linke im deutschsprachigen Raum für die Kurden interessieren?

KEREM SCHAMBERGER: Es geht nicht mehr um die klassische Solidarität der 1970er und 1980er Jahre, wo westliche Linke dort hingehen und »denen da« hel­fen. Wir können nun viel mehr von den gesellschaftlichen Umgestaltungsprozessen – zum Beispiel in Nordsyrien – lernen: Etwa wie man eine progressive Volksbewegung mit linken Idealen initiiert, gleichzeitig aber nicht die religiösen Teile der Bevölke­rung verprellt. Die kurdische Befreiungsbe­wegung ist da sehr feinfühlig, das haben wir als Linke, vielleicht MarxistInnen, oft AtheistInnen nie so wirklich hinbekom­men. Es geht um wechselseitiges Lehren wie auch ein Lernen gleichzeitig. Das Inte­ressante an der kurdischen Bewegung ist, dass sie in Teilen sehr offen für diese neue Art der Solidarität ist.

Kerem Schamberger ist wissenschaftlicher Mit­arbeiter am Institut für Kommunikationswis­senschaft und Medien­forschung und Aktivist aus München. Er ist aktiv im Verein »mar­xistische linke« und im Vorstand des »Institut Solidarische Moderne«.

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Kerem Schamberger und Michael Meyen Die Kurden: Ein Volk zwischen Unterdrü­ckung und Rebellion, Westend Verlag: Frank­furt/Main 2018

Dieser Beitrag ist in der Volksstimme 06/2019 erschienen.

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