Her mit der Reservearmee

Obacht, bitte: Zuwanderung kann zu Lohnsteigerungen führen

Befreit aus den Zwängen großkoalitionärer Zweisamkeit arbeitet die SPÖ eifrig daran, ihr Profil als Oppositionspartei zu schärfen. Und kramt dabei in der Frage von Arbeitsmarkt und Migration rassistische Abschottungsrhetorik hervor. Doch führt Zuwanderung tatsächlich zu Lohnverlusten? Rainer Hackauf ist der Frage nachgegangen und in der Schweiz auf solidarische Antworten gestoßen.

Die Nachricht über die geplante Ausweitung der Mangelberufsliste muss in der Löwelstraße zu beängstigenden Szenen geführt haben. «Die FPÖ holt 150.000 Zuwanderer ins Land», schnaubte der eben erst frisch installierte Bundesgeschäftsführer der SPÖ, Max Lercher, Mitte Jänner und ortete einen freiheitlichen «Arbeiterverrat». Überhaupt, twitterte Lercher, würde «Jörg Haider heute wahrscheinlich SPÖ wählen». Soweit wollte SPÖ-Chef Christian Kern dann doch nicht gehen. In der Sache allerdings stellte sich Kern hinter Lerchers Warnungen. Selbst Karl Marx musste dafür herhalten, als der SP-Chef in einem Interview mit dem Standard die – im Übrigen quantitativ haltlosen – Behauptungen erneuerte und nachdrücklich auf die Gefahr einer «Reservearmee» hinwies. Fast hätte man glauben können, es wären billige Arbeitskräfte aus Drittstatten, die in aufreibenden Verhandlungsrunden den Lohn österreichischer Arbeiter_innen drücken – und nicht etwa Unternehmer_innen, die nach dem größtmöglichen Profit trachten.

Einfache Gleichung.

Hat man in der SPÖ die Entstehungsgeschichte der Arbeiterbewegung bereits vollkommen vergessen? Schon von mehr als hundert Jahren ging es den Gewerkschaften darum, durch die solidarische Organisierung aller Arbeitenden größtmögliche Verhandlungsmacht zu erringen. Aus diesem Grund setzten die Gewerkschaften alsbald auch auf die Einbindung von zugewanderten Arbeitern – und Frauen, die von vielen Männern anfangs als Lohndrückerinnen angesehen wurden. Die einfache Gleichung lautete: Um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, müssen Gewerkschaften dazu in der Lage sein, ausreichend zu organisieren. Das gilt auch heute noch.

Neue Methoden.

Ein gutes Beispiel dafür gibt etwa die Schweizer Gewerkschaft Unia ab. Die Unia ist eine branchenübergreifende Gewerkschaft, die Arbeitnehmer_innen in Industrie, Gewerbe, Bau und privatem Dienstleistungsbereich organisiert. Mit rund 200.000 Mitgliedern ist sie die größte Gewerkschaft in der Schweiz. Im Vergleich zu Österreich gibt es in der Schweiz einen viel höheren Anteil an Migrant_innen am Arbeitsmarkt – ein Viertel der Lohnabhängigen hat keinen Schweizer Pass. Vor diesem Hintergrund und angesichts anhaltend starker Mitgliederverluste in den 1990er-Jahren entschied sich die Unia für eine neue Strategie gewerkschaftlicher Organisierung. Anstatt auf eine Abschottung des Arbeitsmarkts zu setzen, wurden bei der Unia neue Methoden der Mitgliedergewinnung eingeführt. Plötzlich wurde Gewerkschaftsarbeit wieder verstärkt als Bewegung verstanden und orientierte sich zuerst an den Interessen der eigenen Mitglieder. Bis dahin war es auch in der Schweiz üblich gewesen, dass sich die Position der Gewerkschaft zunächst einmal an der Politik der SP auszurichten hatte. Außerdem lernte man die Kolleg_innen in den wachsenden Branchen mit besonders unsicheren Arbeitsbedingungen und schlechten Löhnen in der Muttersprache und «vor Ort» – also am Arbeitsplatz – anzusprechen.

Heute hat mehr als die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder keinen Schweizer Pass. Ähnlich sieht es bei den hauptamtlich Angestellten aus. Die eigene Mitgliederzeitung «Horizonte» erscheint in sechs Sprachen: Spanisch, Portugiesisch, Türkisch, BKS, Albanisch und Polnisch. Die Unia bietet ihren Mitgliedern Sprachkurse an und unterstützt Mitglieder, wenn es um die Einbürgerung geht. Auch in gesellschaftspolitischen Debatten meldet sich die Gewerkschaft immer wieder zu Wort. Recht selbstbewusst bezeichnet sie sich heute als «größte Migrant_innenorganisation» in der Schweiz. «Die gewerkschaftliche Position lautet, dass alle, die hier arbeiten, die gleichen Rechte haben sollen», so Vania Alleva, die der Unia seit 2015 als Präsidentin vorsteht. «Gleiche Rechte, das bedeutet auch die Legalisierung der Sans-Papiers, die erleichterte Einbürgerung (…). Was die Migrantinnen und Migranten aber am meisten wollen, das weiß ich von meiner Herkunft, ist vor allem eines: Respekt.» Nebenbei führt das auch zu erfolgreich geführten Arbeitskämpfen. In schwierig zu organisierenden Branchen wie dem Bau hat die Unia nicht trotz, sondern «dank Migranten» wieder an Kampfkraft gewonnen, erzählt etwa Andreas Rieger, einer von zwei Ko-Präsidenten der Gewerkschaft. Und in der Tat hat die Unia seit 2004 Gesamtarbeitsverträge für über eine Million Beschäftigte mit teils bemerkenswerten Ergebnissen abschließen können.

Kein Ausschluss.

Ohne Frauen und Migrant_innen würden heute viele Branchen auch in Österreich nicht mehr funktionieren. Wollen Gewerkschaften hierzulande ihre Mitgliederverluste stoppen, werden sie ähnliche Antworten wie die Unia finden müssen. Erste, zarte Ansätze dafür gibt es bereits. Zu solidarischer Organisierung gemeinsam mit der «Reservearmee» hat übrigens schon Karl Marx geraten. Von einem Ausschluss hingegen hielt er nichts.

Dieser Beitrag ist im Jänner 2018 in der Boulevardzeitung Augustin erschienen.

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