Im Juli vor 10 Jahren haben sich die Truppen des Assad-Regimes aus Kobanê zurückgezogen. Kurdische Kräfte übernehmen die Stadtverwaltung und darüber hinaus die Verwaltung in der gesamten Region. Rainer Hackauf hat Kerem Schamberger Fragen zur aktuellen Situation in Kurdistan, den Angriffen der Türkei auf die Selbstverwaltung in Nordsyrien, den Protesten im Iran und der Rolle der Europäischen Union gestellt.
Zehn Jahre danach, was ist die Bilanz? Welche Fortschritte hat die Revolution gebracht?
Kerem Schamberger: Also erstens muss man sagen, dass es eine unglaubliche Leistung ist, diesen Geburtstag der Revolution von Rojava überhaupt feiern zu können. Wer hätte vor 10 Jahren gedacht, dass es so weit kommen wird. Das ist eine Leistung für sich. Aber auch der Inhalt des Projektes ist nach wie vor beeindruckend. Es wurde geschafft, eine stabile, demokratische Selbstverwaltung zu schaffen, die nicht nur für Kurdinnen und Kurden arbeitet, sondern die die ganze multikulturelle Vielfalt der Region umfasst – in der also Araber:innen, Assyrer:innen, Yesid:innen und viele andere mitarbeiten. Es wurde also geschafft, eine politische wie auch verwaltungstechnische Vertretung zu schaffen, die der Vielfalt der Region gerecht wird.
Gleichzeitig wurde ein aufopferungsvoller und blutiger Kampf gegen die IS-Terrormiliz geführt. Dabei sind mehr als 12.000 Kämpfer:innen von SDF (Demokratische Kräfte Syriens) und YPG (Volksverteidigungseinheiten) gestorben, mehrere 10.000 wurden verletzt und sind nun teilweise Kriegsinvalide. Im März 2019 wurde der IS als territoriale Entität besiegt. Es gibt ihn allerdings noch im Untergrund in Form von Schläferzellen. Und noch immer sitzen zehntausende IS-Terroristen in den Gefängnissen der Selbstverwaltung ein.
Zum Dritten wurden in Rojava in den letzten 10 Jahren sehr große Inseln der Freiheit geschaffen, wo zum Beispiel die Befreiung der Frau Realität ist. Damit sage ich nicht, dass es vor Ort keine patriarchalen Strukturen mehr gibt, aber es wurden Räume geschaffen, in denen die Befreiung der Frau Realität werden kann. Seien es die militärischen Fraueneinheiten der YPJ, seien es Frauenzentren, seien es spezielle Kulturangebote, seien es Frauenkooperativen, in denen Frauen arbeiten und sich ökonomisch unabhängig machen können. Es ist bemerkenswert, dass all das in den letzten Jahren gelungen ist – bei allen Schwierigkeiten, die es in der Region gegeben hat und gibt.
Die Situation in Rojava ist eng verbunden mit der Situation in den Nachbarstaaten – aber auch der internationalen Situation. Was hat der Krieg gegen die Ukraine für Auswirkungen auf die Situation in der Region?
Kerem Schamberger: Das ist eine gute Frage. Der russische Krieg gegen die Ukraine läuft im Hintergrund der aktuellen Kriegshandlungen gegen Rojava. Man muss sagen, dass aufgrund der relativen Schwächung der russischen Präsenz in Syrien, weil eben viele russische Verbände nun gegen die Ukraine im Kampf eingesetzt sind, ein Vakuum entstanden ist. Die Amerikaner sind auch vor Ort, diese haben aber keine wirkliche Syrien-Strategie, die über die Bekämpfung des IS hinausgeht. Und auch ihr Fokus liegt derzeit auf Osteuropa. Gemeinsam mit den Europäern soll dort der russische Feind bekämpft werden. Die fehlende Strategie beider Großmächte führt dazu, dass regionale Mächte wie die Türkei die Situation nutzen und etwa in den letzten 14 Tagen nun auch vermehrt Luftangriffe mit Kampfjets gegen das Projekt der Selbstverwaltung starten, gegen seine zivilen und militärischen Repräsentanten.
Hinzu kommt noch, dass die Türkei eine massive diplomatische Aufwertung in den letzten Monaten erfahren hat. Auf der einen Seite werden türkische Drohnen an die ukrainische Armee geliefert, auf der anderen Seite werden mit Putin Abkommen für Weizenlieferungen aus der Ukraine geschlossen. All das hat dazu geführt, dass die Türkei nun das Gefühl hat, wieder eine starke Macht zu sein, die in Nordsyrien ihre eigene kriegerische Politik durchführen kann. All diese Entwicklungen hängen eng mit dem Ukraine-Krieg zusammen.
Für die türkische Regierung steht fest: Hinter dem Anschlag von Istanbul Mitte November steckt die PKK. Die türkische Armee fliegt nun vermehrt Angriffe auf kurdische Stellungen in Syrien und dem Irak. Ist der Anschlag ein Vorwand? Die PKK hat sich ja klar davon distanziert.
Kerem Schamberger: Die diskursive Verknüpfung des Anschlags mit der kurdischen Freiheitsbewegung ist eine Taktik des AKP-Regimes, um öffentliche Legitimation für größere Angriffe auf Rojava bzw. Nordsyrien herzustellen. Der furchtbare Anschlag in Istanbul hat nichts mit der kurdischen Freiheitsbewegung zu tun. Und es ist wichtig zu erinnern, dass die Angriffe ja nicht jetzt erst anfingen. Seit Monaten laufen Drohnenangriffe, nun werden sie auch von Kampfjets und der ernstzunehmenden Drohung auch türkische Bodentruppen einzusetzen, begleitet. Das ist die neue Qualität nach dem Anschlag in Istanbul.
Zugleich hat der Anschlag den türkischen Wahlkampf eingeläutet. Wenn man sich die Wahlkämpfe der letzten sieben Jahre anschaut, gab es vor jedem Wahlkampf in der Türkei eine Intensivierung militärischer Aktivitäten. Krieg um nationalistische Gefühle in der Türkei zu stimulieren und auch von der massiven Inflation abzulenken, die seit dem Ukraine-Krieg noch einmal stärker geworden ist. Die Zustimmungsraten zum AKP-Regime sind in den letzten Monaten gefallen, Eskalation und Polarisierung sollen wie bei den Wahlen 2015 für Geschlossenheit hinter der Regierung sorgen.
Interessant ist daher, wen die Regierung der Öffentlichkeit als Attentäterin präsentiert hat. Eine Schwarze Frau, die Kurdin sein soll und noch dazu aus Syrien geflüchtet ist. In dieser Frau sind alle rassistischen Projektionen der türkischen Gesellschaft vereint. Jenseits davon, wie die türkische Regierung hier ihre Propaganda betreibt, besteht überhaupt keine Verbindung zwischen dem Anschlag und der kurdischen Freiheitsbewegung. Im Gegenteil, alle Details, die wir nun kennen, deuten darauf hin, dass die mutmaßliche – man weiss noch nicht, ob sie es wirklich war – Attentäterin aus einer IS-Familie kommt. Sie hat drei Brüder, die für den IS gekämpft haben und in seinen Reihen gefallen sind. Ein weiterer Bruder ist heute ein hochrangiger Kommandant der sogenannten Freien Syrischen Armee. Mazlum Kobanê, der Oberkommandierende der Demokratische Kräfte Syriens (SDF), hat dieser Tage angekündigt, Fotos und Detail zur Attentäterin und ihrem Hintergrund zu veröffentlichen. Trotzdem wurde weltweit von Medien übernommen, dass es einen Zusammenhang zwischen PKK und dem Anschlag gibt, weil diese Nachricht vom türkischen Staat verbreitet wurde. Das sagt auch viel über unseren Journalismus aus.
Was ist das eigentliche Ziel von Erdoğan in Nordsyrien?
Kerem Schamberger: Das erste Ziel ist, um es in zwei Worten zu sagen, die ethnische Säuberung. Die ethnische Säuberung von dort lebenden Kurdinnen und Kurden. Das auch, um eine vermeintliche Lösung für die syrischen Geflüchteten – von denen ja Millionen seit mehr als zehn Jahren in der Türkei leben – präsentieren zu können. Die Geflüchteten werden in der wirtschaftlichen Situation dafür verantwortlich gemacht, dass es keine Jobs gibt oder, dass – die in der Türkei ohnehin kaum existierenden – Sozialleistungen weggenommen würden. Erdoğan will daher nun die Gebiete in Nordsyrien erobern, um die Geflüchteten dort anzusiedeln, obwohl die gar nicht aus diesen Gebieten kommen. Damit das möglich ist, muss das Gebiet ethnisch gesäubert werden von den Menschen, die gerade dort wohnen. Und das sind vor allem Kurdinnen und Kurden.
Das zweite, übergeordnete Ziel ist die Zerschlagung jeglicher Selbstverwaltung. Weil eine erfolgreiche Selbstverwaltung ja auch für die Kurdinnen und Kurden in der Türkei ein Vorbild sein und Ausstrahlungskraft entwickeln könnte.
Wie wirken sich die Massenproteste im Iran auf die Situation aus? Wie steht das iranische Regime zur Selbstverwaltung in Nordsyrien?
Kerem Schamberger: Das iranische Regime steht bekanntermaßen an der Seite des syrischen Assad-Regimes. Es hat in den letzten Jahren maßgeblich dazu beigetragen, dass das Regime in Syrien nicht gestürzt worden ist – durch die Sendung von Militärpersonal, durch die Rekrutierung von Truppen. Daher hat das iranische Regime keinerlei politisches oder strategisches Interesse an der Selbstverwaltung der Kurd:innen in Nordsyrien. Auch deswegen, weil sie – ähnlich wie bei der Türkei – für das iranische Regime ein unerwünschtes Beispiel für die Kurd:innen im eigenen Land darstellen könnte. Das ist auch durchaus der Fall. Aktuell sehen wir etwa, dass bei den Protesten im Westiran bzw. Ostkurdistan immer wieder stark Bezug genommen worden ist auf die Selbstverwaltung in Rojava.
Der Iran steht einer türkischen Invasion und Besatzung in Nordsyrien trotzdem ablehnend gegenüber. Nicht weil der Iran das kurdische Projekte so toll findet, sondern weil die Türkei ein regionaler Konkurrent des Iran ist. Es gibt zwischen den beiden Ländern Streitigkeiten über den Zugang und die Nutzung von Wasser, es gibt Streitigkeiten über Geflüchtete. Zudem gibt es auch einige schiitische Dörfer in der Gegend, wo die Türkei mit Bodentruppen einmarschieren möchte. Die Türkei wird dort ja nicht alleine einmarschieren, sondern mit jihadistischen Verbündeten, die schon Afrin und Idlib kontrollieren und auch Schiiten als Ungläubige ansehen. Auch Schiit:innen sind daher in Gefahr, und das will der Iran als ihre selbsterklärte Schutzmacht nicht zulassen.
Im Iran selber halten die Proteste gegen das Regime mittlerweile seit Wochen an. In den letzten Wochen kommen Kurd:innen immer stärker unter Druck. Werden die Proteste vor allem von Kurd:innen getragen oder handelt es sich dabei um einen Spaltungsversuch? Wie beobachtest du die Situation vor Ort?
Kerem Schamberger: Ich bin kein Iran- oder Ostkurdistan-Experte, daher sage ich dazu in der Öffentlichkeit immer wenig. Soweit ich es aber beobachte, ist das Besondere an den Protesten, dass diese diesmal nicht nur von einer besonderen Klasse oder Ethnie getragen werden, sondern im ganzen Iran stattfinden. Es beteiligen sich Menschen in Teheran mit unterschiedlichen Hintergründen, es beteiligen sich Belutsch:innen im Osten des Irans genauso wie Kurd:innen im Westiran bzw. Ostkurdistan – in Städten wie Merivan, Mahabad oder Sanandaj. Es gehen Menschen auf die Straße, um gegen das iranische Regime generell zu protestieren, Frauen speziell auch gegen ihre Unterdrückung als Frauen in diesem patriarchal-islamischen System, gleichzeitig gehen die Menschen in Ostkurdistan aber auch auf die Straße gegen ihre Unterdrückung als Kurdinnen und Kurden. Die Sicherheitskräfte gehen hier wie auch in Belutschistan im Osten des Iran sehr brutal gegen die Proteste vor, in den “Rand”gebieten des Landes sind die meisten Todesopfer zu verzeichnen. Gleichzeitig ist besonders an den Protesten, dass diese sich eben nicht spalten lassen, dass auch in anderen Landesteilen sich Menschen etwa positiv auf die Kurd:innen beziehen. Das Spaltungsmoment – das in der Region sehr wirksam ist – funktioniert im Iran derzeit so nicht mehr für die, die auf die Straße gehen oder für die, die mit den Protesten sympathisieren.
Auf EU-Ebene ist in den letzten Wochen ein anderes Thema präsent. Es kommt wieder zu verstärkten Fluchtbewegungen nach Europa. Wie hängt die Situation in der Region mit der EU-Migrationspolitik zusammen? Welche Interessen verfolgt die EU?
Kerem Schamberger: Das wichtigste in dem Zusammenhang ist der EU-Türkei-Migrationsdeal aus dem Jahr 2016. Das vermeintliche – weil, wenn man es anders betrachten würde, wäre es vielleicht gar keines – Problem von Flucht und Migration hat sich die EU damit vom Hals zu schaffen versucht. Man hat die Türkei damit zum Türsteher Europas gemacht, die Türkei soll dafür insgesamt 6 Milliarden Euro bekommen. Aufgabe der Türkei ist es, Geflüchtete zurückzuhalten bzw. die Flucht nach Europa möglichst zu erschweren. Gleichzeitig hat man der Türkei damit ein politisches Druckmittel in die Hand gegeben. Die Türkei ist nun in der Lage bei Streitthemen damit zu drohen, ihre Grenzen zu öffnen. Dass diese Drohung funktioniert, liegt natürlich an der EU. Wenn die EU sagen würde, Flucht ist keine Bedrohung für Europa, öffnet die Grenzen doch, weil wir haben ein gemeinsames Asylsystem, wäre das ganze kein Problem mehr.
Ein weiteres Ergebnis dieses Abkommens ist, dass die EU zu allen Verletzungen des Völkerrechts durch die Türkei, zu allen Angriffen der letzten Tage schlicht schweigt. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock hat bisher keine kritischen Worte dazu verloren, dass die Türkei zivile Einrichtungen, Elektrizitätswerke, Krankenhäuser oder Schulen in Nordsyrien bombardiert und zerstört. Sie solle dabei – so Baerbock – nur Rücksicht auf Zivilist:innen nehmen. Der NATO-Partner Türkei soll nicht verschreckt werden.
Du selbst arbeitest bei der humanitären Organisation medico, die in der Region seit Jahren präsent ist. Darüber hinaus bist du unter anderem in der Europäischen Linken aktiv. Wie können wir die Bewegungen vor Ort unterstützen? Was bedeutet Internationalismus aktuell?
Kerem Schamberger: Das ist eine große Frage, die mich stark umtreibt, weil ich gerade keine wirkliche Antwort darauf habe. Das, was ich beobachte, ist, dass auch sehr viele fortschrittliche Menschen sich gerade auf die nationale Ebene zurückziehen. Das hat materielle Gründe, die Krisen- und Kriegssituation, aber gleichzeitig auch psychologische Gründe. Man hält es vielfach gar nicht mehr aus, sich mit dem zu beschäftigen, was am Rande Europas und darüber hinaus passiert. Obwohl die Rolle Europas für das, was dort passiert, ja maßgeblich ist. Ich sehe da momentan ein Dilemma, in dem die gesellschaftliche Linke steckt. Ich denke, Internationalismus und Solidarität funktionieren nur dann, wenn man sich des Ganzen annimmt. Wenn man also schaut, was haben unsere Produktions- und Konsumptionsverhältnisse, unsere Lebensweise damit zu tun, dass weltweit Zerstörung und Chaos herrschen. Dass wir beide gerade in warmen Räumen sitzen, Internet und Licht haben, um via Zoom zu sprechen, ist mittlerweile untrennbar damit verbunden, dass anderswo Gewalt, Chaos und Krieg herrschen. Die Kämpfe hier vor Ort müssen wir daher aufs engste verwoben sehen mit den Kämpfen außerhalb Europas – anders geht es heutzutage nicht mehr. Befreiung ist nur gemeinsam zu denken und bedingt sich gegenseitig.