Sankt Marx ist ein Stadtteil Wiens, eigentlich zugehörig zum Bezirk Wien-Landstraße, jedoch unmittelbar angrenzend an Wien-Simmering und dem aktuellen Stadtentwicklungsgebiet Gasometervorfeld, das in beiden Bezirken liegt. Einst war der Stadtteil St. Marx für seine Fleischindustrie bekannt, neben dem Inlandsschlachthof – der heutigen Arena Wien – gab es den wesentlich größeren Auslandsschlachthof, der im Zuge der Arena-Bewegung 1976 Jahre besetzt wurde. Der Auslandsschlachthof ging noch auf die Zeit der Monarchie zurück, als jeden Tag zehntausende Rinder – vorwiegend aus Ungarn – nach Wien getrieben und eben dort geschlachtet wurden, um die Bevölkerung hier mit Fleisch zu versorgen.
Bis heute übergeblieben ist ein große – vorwiegend asphaltierte – Fläche, die sich in den letzten Jahren viele Anrainer_innen der beiden angrenzenden Bezirke angeeignet haben. So findet sich dort ein Areal mit selbstverwalteten Hochbeeten, ein DIY-Skatepark und selbst die große asphaltierte Fläche im Zentrum wird für diverse Freizeitaktivitäten genutzt. Der Ort ist ein aus der Zeit gefallener Un-Ort mitten in einer durchkommerzialisierten Großstadt. Und das ist natürlich ein Dorn im Auge.
Die Stadt Wien arbeitet nun seit Jahren daran, damit sich all das ändert. Einerseits durch die Ansiedelung von Technologieunternehmen, wie auch eines sogenannten Medien-Clusters am oder um das Areal des ehemaligen Schlachthofs. Mit dem Vienna Globe (betrieben von der (Michael) Niavarani & Hoanzl GmbH) in der Marx-Halle – der denkmalgeschützten Halle des ehemaligen Zentralviehmarkts – (die Halle ghört der im Eigentum der Wien Holding stehende Wiener Stadtentwicklungsgesellschaft m.b.H. (WSE)) finden sich kommerzielle Veranstaltungs- bzw. Kultureinrichtungen vor Ort.
Letzter Freiraum soll zugunsten von Megahalle verschwinden
Nun soll der letzte Freiraum auf dem Areal des ehemaligen Schlachthofs verschwinden. Doch warum das? Seit Jahren gibt es die Forderung aus der Kulturszene, dass Geld, das in kulturelle Förderung gesteckt wird, nicht vorwiegend an Hochkultureinrichtungen im 1. Bezirk – also der Inneren Stadt – gehen sollen. Diese Förderpraxis von Gemeinde und mehr nach Bund ist durchaus kritisierenswert, da sie doch so vorwiegend Kulturprogramm für Besserverdiener_innen fördert. Stadtrandbezirke wie Simmering – und damit auch deren Bewohner_innen – gehen hingegen leer aus.
Dieses Argument wollte sich der angehende Bürgermeister Michael Ludwig auf eigenwillige Weise zu eigen machen, um so das aktuelle Kultur- wie auch Klassen-Verständnis der SPÖ Wien zu offenbaren. 2018 präsentierte er daher den Vorschlag, eine Event-Halle für bis zu 20.000 Besucher_innen Namens WH-Arena (Wien Holding Arena) auf das verblieben Freiareal des ehemaligen Schlachthofs zu bauen. Mit dieser „neuen Stadthalle“ – für Kongresse, Sport- wie auch Musikevents – wollte SPÖ-Bürgermeister Ludwig also Kultur in Richtung Peripherie der Stadt, konkret also zu uns nach Simmering, bringen. Wien-Holding-Geschäftsführer Kurt Gollowitzer nannte bei der Präsentation des Projekts U2, Adele, Eminem oder Billy Joel als große Acts, die man mit dem Bau der neuen Halle nach Wien bringen könne. Bei all diesen Plänen mit dabei waren die Grünen, als braver Koalitionspartner, damals unter ihrer damaligen Stadträtin Maria Vassilakou.
Denn natürlich brauch niemand in Simmering eine Megahalle an der Bezirksgrenze. Weder werden Eintrittspreise leistbar sein, noch richtet sich das Programm einer 20.000-Personen-Halle an die Bewohner_innen vor Ort. Absehbarer Weise bleiben würde für die Bewohner_innen hingegn: Mehr Verkehr. Dabei wären mehr kulturelle Angebote durchaus wichtig. So ist Simmering der vielleicht einzige Bezirk Wiens ohne ein Theater bzw. eine Bühne. Im Gesundheitsbereich steht es mit der Unterversorgung im Bezirk übrigens nicht viel besser, aber das ist ein anderes Thema. All das verstärkt ganz nachvollziehbar das Gefühl des „abgehängt-seins“ viele Bewohner_innen im Bezirk. Und wirkt sich bei Wahlergebnissen entsprechend auch aus.
St. Marx für Alle!
Waren ursprünglich 250 Millionen Euro für den Bau veranschlagt, ist laut Bericht des Stadtrechnungshof mittlerweile mit Kosten von mindestens 742 Millionen Euro zu rechnen. Durchaus Erklärungsbedürftig und auch mit ein Grund warum sich der Bau der Megahalle verzögert. Denn die Stadt war in den Vergangen zwei Jahren auf der Suche nach einem privaten Investor als Partner bei Errichtung und Betrieb. Dafür wurde eine Ausschreibung gemacht, an der sich zwei internationale Unterhaltungskonzerne beteiligten und die letzten Herbst einem Knalleffekt endete. Das Verwaltungsgericht Wien gab im Oktober dem Einspruch des Projektwerbers CTS Eventim – einem der drei globalen Player am Konzert-Markt, maßgeblich mitverantwortlich für die explodierenden Ticketpreise der letzten Jahre – statt und erklärte die Zuschlagsentscheidung an die OVG Bristol Limited – einer dubiosen Briefkastenfirma – aus formalen Gründen für nichtig.
Seit Jahren versucht die Initiative Nein zur Halle – St. Marx für Alle auf diese Umstände aufmerksam zu machen, den Bau der Halle zu stoppen und einen gemeinsamen Planungsprozess für die Zukunft der Brache anzustoßen. Die Initiative hat sich aus Betroffenen und zukünftigen Anrainer_innen der geplanten Megahalle im Herbst 2022 als Nachbarschaftsinitiative formiert. Bis jetzt jedoch ohne wirklichen Erfolg. Betonpolitik hat im Roten Wien traditioneller Weise Vorrang vor Mitbestimmung. Diese ist der SPÖ Wien, die die Stadt seit Jahrzehnten mehr oder weniger alleine regiert, seit jeher suspekt. Außerdem könnte Mitbestimmung durch Bewohner_innen eigene Geschäftsinteressen stören.
Aktuell kommt eine weitere Episode in der Auseinadersetzung Bürgerinitiative vs Stadt hinzu. Nach monatelangem Unterschriftensammeln wollte die Initiative wollte bei der Stadt eine Petition – ich habe sie natürlich auch unterzeichnet – nach dem entsprechenden Gesetz einbringen. Nur wird die Petition seitens der Stadt nicht bearbeitet, wie die Initiative diese Woche bekannt gemacht hat.
Die skandalöse Begründung: „Die Stadt Wien sieht sich für die Liegenschaft nicht zuständig, auch gäbe es innerhalb der Gemeinde bzw. des Landes kein zuständiges Organ, welches die Forderungen der eingebrachten Petition berücksichtigen könnte. Dass, obwohl sich die Liegenschaft über die Strukturen der Wien Holding im Besitz der Stadt Wien befindet“, wie in in einer aktuellen Aussendung von St. Marx für Alle nachgelesen werden kann.
Demokratiedefizit Wien
Mit dieser Erfahrung ist die Bürgerinitiative nicht alleine. Schon 2020 scheiterte die Initiative Mehr Platz für Wien. Unser Bureau für Selbstorganisierung hat die Initiative zu Beginn mit ein bisschen Know-How unterstützt, das Anliegen sowieso auch. „Mehr Platz für Wien“ sammelte damals – erschwert durch die Pandemie – 57.760 Unterschriften für ein lebenswerteres Wien durch die Umverteilung von öffentlichem Raum zu allen Bewohner_innen der Stadt, statt der Bevorzugung einzelner Nutzer_innengruppen. Obwohl soviele Unterschriften gesammelt wurden, wie bei keiner Initiative jemals davor, wurden die Forderungen von der Stadt komplett ignoriert. Die SPÖ Wien war dabei ganz klar in ihrer Kommuniaktion: Mitbestimmung durch Betroffene interessiert uns nicht! Aus dieser Erfahrung hervorgegangen ist die aktuelle Kampagne Wir machen Wien rund um Beteiligungsfdefizite und Best Practice Beispiele in Wien. Auch unterstützenswert!
In den letzten Wochen haben größere Demonstrationen auch in Österreich für Aufsehen gesorgt. Unter dem Titel »Demokratie verteidigen!« gimgen auch in Wien zehntausende Menschen auf die Straße. Die Beispiele oben zeigen aber, dass wir uns fragen müssen, welche „Demokratie“ wir überhaupt verteidigen wollen? Jenseits davon, dass in Städten wie Wien ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr wählen darf, schaut auch der Alltag anders aus. Die Meisten von uns verbringen viel Zeit ihres Lebens an Orten, wo Demokratie und Mitbestimmung gar keinen Platz haben: am Arbeitsplatz oder auch im eigenen Wohnumfeld. Eine neue Studie zeigt aber, wer mehr mitbestimmen kann, ist weniger rechtsextrem. Der Aufstieg der FPÖ und das mangelnde Demokratieverständnis der SPÖ Wien – so gesehen zwei Seiten, einer Medaille.